Kehrtwende bei der Sanierungsklausel

06.07.2018

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sorgt für eine Kehrtwende zu Gunsten der Steuerpflichtigen in Sanierungsfällen: Nach Ansicht des EuGH hat die Europäische Kommission die Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG) seinerzeit zu Unrecht als staatliche Beihilfe eingestuft. Die den damaligen Beschluss bestätigenden Urteile des Gerichts der Europäischen Union (EuG) hebt der EuGH auf (Urteile v. 28.06.2018, C-203/16 P, C-208/16 P, C-209/16 P und C 219/16 P). Damit können Körperschaften bei Anteilseignerwechseln über 25% künftig und in noch offenen Altfällen die Sanierungsklausel potenziell zum Erhalt ihrer Verlustvorträge nutzen.

Historie der Sanierungsklausel

Totgesagte leben länger. So lässt sich der Werdegang der Sanierungsklausel aus heutiger Sicht knapp zusammenfassen. Eingeführt wurde die umgangssprachlich als „Lex Opel“ firmierende Klausel mit Gesetz vom 16.07.2009 und rückwirkender Anwendung ab 01.01.2008. Die in § 8c Abs. 1a KStG gefasste Norm bewirkt, dass ein Beteiligungserwerb zum Zweck der Sanierung des Geschäftsbetriebs im Hinblick auf die steuerlichen Verlustvorträge der Körperschaft unbeachtlich ist. Sind ihre konkretisierenden Voraussetzungen erfüllt, bleiben die Verlustvorträge der sanierungsbedürftigen Körperschaft somit nach Anteilseignerwechseln enthalten. Sie gehen also nicht ab Beteiligungserwerben über 25% anteilig bzw. ab Beteiligungserwerben über 50% vollständig unter.

 

Die EU-Kommission leitete Anfang 2010 ein Beihilfeverfahren ein. Daraufhin erklärte das BMF mit Schreiben vom 30.04.2010 die Sanierungsklausel für vorläufig nicht mehr anwendbar. Mit Beschluss C 7/10 vom 26.01.2011 stufte die Kommission die Sanierungsklausel grds. als mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe ein. Sie forderte die Bundesrepublik Deutschland auf, die Regelung aufzuheben und die bis dahin gewährten Begünstigungen von den Steuerpflichtigen zurückzufordern. Statt § 8c Abs. 1a KStG zu streichen, reagierte der Gesetzgeber mit dem heutigen § 34 Abs. 6 KStG, der die Norm bis auf weiteres suspendierte. Die gegen den Kommissions-Beschluss gerichtete Nichtigkeitsklage der Bundesregierung erfolgte außerhalb der Klagefrist. Daher wies der EuG sie am 18.12.2012 als unzulässig ab.

 

Zwei parallel klagende Unternehmen, die ihre Sanierung seinerzeit auf Basis des § 8c Abs. 1a KStG nach erteilter und dann ex post zurückgezogener verbindlicher Auskunft durchgeführt hatten, unterlagen erstinstanzlich vor dem EuG. Mit den Urteilen T-287/11 und T-620/11 bestätigte das EuG am 04.02.2016 die Einschätzung der Kommission. Der lange Atem der beiden klagenden Unternehmen wurde nun belohnt: Am 28.06.2018 bestätigte der EuGH im Revisionsverfahren deren Klagebefugnis wegen individueller Betroffenheit. Er hob die genannten Urteile des EuG auf, erklärte den Beschluss der Kommission für nichtig und legte ihr sämtliche Verfahrenskosten der Unternehmen auf. Für die Sanierungsklausel endet dadurch wegen Erfüllung des § 34 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 KStG die Anwendungssperre. Zudem greift die Klausel nun doch in den Altfällen aus 2008 bis 2010, sofern diese noch offen sind.

Urteilsbegründung – Sanierungsklausel laut EuGH Rückausnahme

Die Kehrtwende beim Ergebnis und die im Ansatz ausgehebelte Begründung bestätigen das geflügelte Wort: Vor Gericht und auf hoher See sei man in Gottes Hand. Der EuGH führt zur Ehrenrettung der Vorgängerinstanz aus, dass die Schlussfolgerungen des EuG im Regel-Ausnahme-Test für sich genommen folgerichtig gewesen seien. Allerdings habe sich das EuG dabei auf die falsche Ausgangsbasis gestützt. Kommission und EuG hatten den Entfall von Verlustvorträgen gemäß § 8c Abs. 1 KStG als Regelfall und die Bewahrung per Sanierungsklausel als Ausnahme und unionsrechtswidrige Beihilfe gesehen. Der EuGH setzt bei der Bestimmung des Referenzsystems dagegen früher an. Als Regelfall definiert er den Erhalt der Verlustvorträge gemäß § 10d Abs. 2 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 S. 1 KStG. § 8c Abs. 1 KStG sei die Ausnahme, die bei schädlichen Beteiligungserwerben für den Entfall der Verlustvorträge sorge. Die Sanierungsklausel in § 8c Abs. 1a KStG sei demnach eine Rückausnahme, die lediglich wieder zur „normalen“ Besteuerung führe (vgl. Rz. 106 und 107 des Urteils C-203/16 P).

 

Laut EuGH haben Kommission und EuG ein falsches Referenzsystem angelegt. Die Sanierungsklausel als nationale steuerliche Maßnahme sei am Maßstab der allgemeinen Regel des – grds. fortbestehenden – Verlustvortrags zu messen und nicht an den Bestimmungen des § 8c Abs. 1 KStG, die aus dem breiteren rechtlichen Rahmen künstlich herausgelöst worden seien. Mit Tenor und Urteilsbegründung folgte der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts Nils Wahl vom 20.12.2017.

Zweifelsfragen zur Sanierungsklausel

Der EuGH hat letztinstanzlich und klar geurteilt. Dennoch bestehen derzeit noch Zweifelsfragen:

 

Erstens fordert § 34 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 KStG  zur Anwendbarkeit der Sanierungsklausel nicht nur, dass EuG bzw. EuGH den Beschluss der Kommission für nichtig erklärt. Sondern er verlangt auch die Feststellung, dass es sich bei der Norm um keine staatliche Beihilfe i.S.d. Artikels 107 Abs. 1 AEUV handele. Eine solche Feststellung findet sich in den EuGH-Urteilen vom 28.06.2018 nicht explizit – allerdings sollte sie sich aus den Urteilen inzident ergeben. Andernfalls wäre zu befürchten, dass die Kommission nun mit neuem, zutreffenden Referenzrahmen erneut den Beihilfecharakter der Norm prüfen könnte. Dies erscheint abwegig.

 

Zweitens ist die Entscheidung des Gerichts ausweislich § 34 Abs. 6 S. 3 KStG im Bundesgesetzblatt bekannt zu machen. Erst dann ist gemäß Satz 4 die Sanierungsklausel anzuwenden, soweit Steuerbescheide noch nicht bestandskräftig sind. Bislang ist die Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt nicht erfolgt – es liegt jedoch nahe, dass sie erfolgen wird. Dafür spricht erstens, dass der Gesetzgeber die Norm im Wartestand aufrechterhalten hat und zweitens, dass ein Sprecher des BMF die EuGH-Urteile bereits als Ende der Anwendungssperre einordnete.

 

Drittens stellt sich die Frage nach der zeitlichen Anwendbarkeit der Sanierungsklausel. Für künftige Fälle und für die noch offenen Fälle aus dem Zeitraum 2008 bis April 2010 sollte sie in jedem Fall gelten. Im Zeitraum Mai 2010 bis 25.01.2011 verhinderte allein das BMF-Schreiben vom 30.04.2010 ihre Anwendung, ab dem 26.01.2011 dann der nunmehr als nichtig beurteilte Kommissionsbeschluss. Dem Vernehmen nach beraten BMF und die Finanzbehörden der Länder derzeit, wie mit Altfällen verfahren werden soll. Nach dem Sinn und Zweck sollte die Sanierungsklausel infolge der EuGH-Urteile auf alle noch offenen Bescheide seit ihrer Einführung mit Wirkung auf den Jahresbeginn 2008 anwendbar sein, also auch für Fälle von Mai 2010 bis heute. Dies ist, zusammen mit dem im aktuellen JStGE vorgesehenen rückwirkenden Entfall des § 8c Abs. 1 S. 1 KStG von 2008 bis 2015, eine gute Nachricht für bislang von § 8c KStG betroffene Körperschaften. Hinsichtlich der Sanierungsklausel gilt es in solchen Altfällen lediglich sauber nachzuweisen, dass all ihre Voraussetzungen erfüllt wurden.

Mittelbare Auswirkungen

Mittelbar ist zu hoffen, dass sich die EuGH-Urteile vom 28.06.2018 positiv auf die für anstehende Sanierungen dringend erwartete Entscheidung im laufenden Notifizierungsverfahren zu § 3a EStG auswirken. Dort hat die Kommission zu beurteilen, ob es sich bei der gesetzlichen Fassung des auf Initiative des BFH abbedungenen Sanierungserlasses um eine schädliche Beihilfe handelt oder nicht. Die Fragestellung ist dort ähnlich wie bei der Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG, sodass bei Ansatz des zutreffenden Referenzrahmens § 10d Abs. 2 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 S. 1 KStG in § 3a EStG kein selektiver Charakter und somit keine Beihilfe gesehen werden sollte.