Die Tatsache, ob ein Schuldner zahlungsunfähig (§ 17 Abs. 2 Satz 1 InsO) ist, war nach der bisherigen Rechtsprechung über eine Liquiditätsbilanz festzustellen. Der Bundesgerichtshof hat nun mit dem Urteil vom 28. Juni 2022 – II ZR 112/21 festgehalten, dass der Nachweis auch durch mehrere, tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl geführt werden kann. Diese Methode führt regelmäßig früher als die Liquiditätsbilanz zur Annahme von Zahlungsunfähigkeit.

1. Zahlungsunfähigkeit vs. Zahlungsstockung

Nicht jeder Liquiditätsengpass begründet bereits eine Zahlungsunfähigkeit. Insbesondere Unternehmen mit nur vorübergehenden Liquiditätsengpässen und guten Umsatz- und Ertragsaussichten sollen nicht vorschnell in ein Insolvenzverfahren gezwungen werden. Zahlungsunfähigkeit ist daher von der bloßen Zahlungsstockung abzugrenzen. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Zahlungsunfähigkeit (widerlegbar) zu vermuten, wenn die liquiden Mittel des Schuldners seine fälligen Verbindlichkeiten zu einem Stichtag nicht decken und der Schuldner diese Liquiditätslücke nicht innerhalb von 3 Wochen auf wenigstens unter 10 % zurückführen kann. Die maßgebliche Unterdeckungsquote ist mithilfe eine sog. Liquiditätsbilanz zu ermitteln. Hierin sind die an einem Stichtag vorhandenen liquiden Mittel und die innerhalb von 3 Wochen flüssig zu machenden Mittel ins Verhältnis zu den fälligen Verbindlichkeiten sowie den innerhalb von 3 Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten zu setzen.

2. BGH, Urteil vom 28. Juni 2022 – II ZR 112/21

In der aktuellen Entscheidung stellt der Bundesgerichtshof nun fest, dass nicht zwingend eine Liquiditätsbilanz aufzustellen sei, sondern der Insolvenzverwalter die Zahlungsunfähigkeit auch auf andere Weise darlegen könne: Mit Verweis auf eine ebenfalls aktuelle Entscheidung vom 28. April 2022 – IX ZR 48/21 sei es zulässig, die Zahlungsunfähigkeit durch einen Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Finanzplan für die auf den Stichtag folgenden 3 Wochen darzutun. Ebenso könne der Insolvenzverwalter den Nachweis durch mehrere, tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Zahl erbringen. Ergebe sich aus dem ersten Liquiditätsstatus am Beurteilungsstichtag eine relevante Unterdeckung und könne der Schuldner diese Liquiditätslücke ausweislich der nachfolgenden, im 3-Wochen-Zeitraum liegenden Liquiditätsstatus nicht in relevanter Weise schließen, sei die Zahlungsunfähigkeit nachgewiesen. In der aktuellen Entscheidung hielt der Bundesgerichtshof insoweit 4 Liquiditätsstatus mit einer Unterdeckung von jeweils mehr als 40 % für ausreichend.

3. Bedeutung für Geschäftsleiter

Der Bundesgerichtshof lässt damit verschiedene rechnerische Modelle zu, mit deren Hilfe der Insolvenzverwalter die Zahlungsunfähigkeit in der Rückschau darlegen kann. Das gilt jedenfalls in einem Haftungsprozess gegenüber dem Geschäftsleiter. Aus Sicht des Geschäftsleiters nicht unproblematisch ist, dass die Modelle zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Bestimmung der 10 %-Grenze kommen können. Die Hintereinanderschaltung mehrerer Liquiditätsstatus führt in aller Regel früher zur Annahme einer ggf. haftungsauslösenden Zahlungsunfähigkeit als die Liquiditätsbilanz. Hintergrund ist, dass die Liquiditätsstatus jeweils nur die Größen (liquide Mittel/fällige Verbindlichkeiten) eines bestimmten Tages zueinander ins Verhältnis setzen und insoweit auf eine zeitraumbezogene Betrachtung wie in der Liquiditätsbilanz verzichten.

Für den Geschäftsleiter einer juristischen Person oder kapitalistisch organisierten Personengesellschaft (GmbH, AG, GmbH & Co. KG, etc.) bedeutet das aber nicht, dass ab sofort bei der Prüfung, ob ein Insolvenzantrag wegen Zahlungsunfähigkeit zu stellen ist (§ 15a InsO), die verschiedenen Modelle durchzurechnen sind. Richtigerweise ist weiterhin allein die Liquiditätsbilanz das Maß aller Dinge. Legt der Insolvenzverwalter in einem etwaig späteren Haftungsprozess anhand mehrerer Liquiditätsstatus dar, dass bereits zu einem früheren Zeitpunkt von Zahlungsunfähigkeit auszugehen sei, muss es dem Geschäftsleiter unbenommen bleiben, den Gegenbeweis durch Vorlage einer Liquiditätsbilanz anzutreten.

4. Ausblick

Das Modell der Liquiditätsbilanz ist teilweise scharfer Kritik ausgesetzt gewesen. Der Verband deutscher Insolvenzverwalter e.V. hat aus Anlass der Kritik jüngst einen Vorschlag zur Neujustierung des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit unterbereitet. Dabei ist die Kritik an der Rechtsprechung teilweise überzogen und ein Systemwechsel keinesfalls zwingend. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich der Bundesgerichtshof hierzu positionieren wird. Der restrukturierungsberatenden Praxis ist jedenfalls zu empfehlen, bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit vorerst an der Liquiditätsbilanz festzuhalten (vgl. zum Vorstehenden insgesamt Brünkmans/Clev, demnächst in ZInsO).

Die aktuellen Entwicklungen bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit werden auch Thema des nächsten Rheinischen Restrukturierungszirkels sein. Die Veranstaltung findet als Webinar am Donnerstag, 20. Oktober 2022, ab 12:00 Uhr statt. Anmeldungen sind noch möglich über diesen Link.

Hinweis auf bevorstehende Veranstaltung:

Rheinischer Restrukturierungszirkel, Webinar 20. Oktober 2022 um 12:00 Uhr: WP/StB Michael Hermanns wird vortragen zu „Die Prüfung der Zahlungsunfähigkeit nach der jüngsten Entscheidung des BGH, Urt. v. 28.6.2022 – II ZR 112/21: Neues Konzept oder bleibt alles beim Alten?“